Schwere Kisten von A nach B bewegen, Pakete aus einem Regal über dem Kopf herausnehmen oder in die Hocke gehen, um an niedrige Arbeitsbereiche heranzukommen - wer in der Logistik arbeitet, hat tagtäglich mit vielen körperlichen Belastungen zu tun, die sich früher oder später negativ auf die Gesundheit der Muskeln, Gelenke und Knochen auswirken können.
Das Volksleiden "Rücken" zählt Statistiken zufolge zu den häufigsten Ursachen für krankheitsbedingte Ausfälle. Ein Problem, dem sich das Fraunhofer-Institut für Materialfluss und Logistik IML mit Sitz in Dortmund annimmt. Sogenannte Exoskelette könnten in Zukunft dazu beitragen, Bewegungsabläufe zu unterstützen und das zu tragende Gewicht abzufangen. Diplom-Ingenieurin Semhar Kinne erklärt im Interview, wie das funktioniert und in welchen Bereichen Exoskelette zur Anwendung kommen.
Wie genau darf man sich ein Exoskelett vorstellen? Auf welche Bewegungen ist dies ausgelegt?
Kinne: Bei Exoskeletten handelt es sich um mechanische Stützstrukturen, die über der Arbeitskleidung am Körper getragen werden. Damit werden spezifische Bewegungen unterstützt, zum Beispiel das Überkopfheben von Lasten. Grundsätzlich unterscheiden wir aktive und passive Exoskelette, bzw. rein mechanisch wirkende und angetriebene: Rein mechanisch wirkende Exoskelette haben Federsysteme, die die Energie bei einer Bewegung speichern und diese bei der Gegenbewegung zurückgeben. Bei aktiven Exoskeletten hingegen gibt es Motoren und eine Energieversorgung, die das ganze Konstrukt schwerer machen, aber auch Kraftunterstützung mehr bieten.
Wichtig zu erwähnen ist, dass Exoskelette meist nur auf eine Bewegungsart ausgelegt sind. Die heute verfügbaren Geräte unterstützen z. B. entweder die Überkopfarbeit oder entlasten die Lendenwirbelsäule.
Muss aus diesem Grund schon vorher feststehen, welche Bewegungen entlastet werden sollen?
Kinne: Genau, die Hersteller der Exoskelette prüfen im Vorfeld, wie die Bewegungsabläufe in den einzelnen Arbeitsbereichen sind und identifizieren die Körperpartie, die am meisten belastet wird - das ist in der Logistik aufgrund des Hebens und Tragens in erster Linie der untere Rücken. Ein Exoskelett sorgt dann dafür, dass das Gewicht des Oberkörpers aufgenommen und in die Beine transferiert wird. Es findet also eine Lastenumverteilung statt.
Wir vom Fraunhofer-Institut analysieren die Arbeitsplätze, um zu schauen, welche Hauptbelastung bei der Tätigkeit tatsächlich vorliegt und wie ein Exoskelett am sinnvollsten eingesetzt werden kann. Zudem beraten wir Unternehmen zur Verwendung und bieten Hands-On-Veranstaltungen an, in denen die Mitarbeitenden einfach ausprobieren können, was es heißt, mit einem Exoskelett zu arbeiten.
Welche Herausforderungen sind in der Exoskelett-Forschung zu bewältigen?
Kinne: Tatsächlich ist es eine der Hauptschwierigkeiten, das Exoskelett alltagstauglich zu machen. Schließlich handelt es sich um ein zusätzliches Gewicht und derjenige, der es trägt, muss sich auf eine gesündere, wenn auch zunächst ungewohnte Körperhaltung einlassen. So mögen die Hersteller im Labor z.B. feststellen, dass die Muskeln durch das Exoskelett weniger arbeiten müssen, in der Praxis haben wir aber nicht diesen einen genau definierten Arbeitsablauf, bei dem etwa hundert Mal eine Vorbeugung des Oberkörpers stattfindet. Wir sollten also berücksichtigen, dass auch alle anderen erforderlichen Bewegungsabläufe nicht behindert werden.
Für den Sommer haben wir daher eine Studie geplant, bei der auch Nebentätigkeiten wie Treppensteigen mit dem Exoskelett überprüft werden. Es geht dabei auch um die Frage der Akzeptanz des Hilfsmittels - schließlich soll es Arbeitsabläufe unterstützen und keine zusätzliche Belastung darstellen. Man muss sich auch die Zeit nehmen, das Exoskelett länger zu testen und sich daran zu gewöhnen. Wenn man über Jahre nicht ergonomisch gearbeitet hat, fühlt man sich vielleicht in die gesunde Haltung "hineingezwängt." Manchmal herrschen zudem Vorurteile gegenüber Personen, die die Hebehilfe verwenden oder Beschäftigte haben die Sorge, dass sie mit Exoskelett mehr leisten müssten.
Wodurch wird die Arbeit mit Exoskeletten limitiert?
Kinne: Es ist uns ganz wichtig, die Mitarbeitenden frühzeitig miteinzubeziehen und ihnen die Möglichkeiten der Technologie aufzuzeigen. Dabei muss man ganz klar betonen: Exoskelette verleihen mir keine Superkräfte, also ich kann nicht plötzlich einen LKW bis an die oberste Kante beladen. Und wenn wir Sicherheitsmängel am Arbeitsplatz feststellen, dann wird ein Exoskelett diese auch nicht beheben können. Hier sehen wir es als unsere Aufgabe, den Verantwortlichen zu verdeutlichen, dass Exoskelette die Arbeit angenehmer machen sollen, die Belastungen aber weiterhin existieren.
Eine weitere Herausforderung sind die Nutzungskonzepte, also wie viele Personen teilen sich ein Exoskelett, inwieweit sind die eingesetzten Geräte auf die individuellen Körpermaße anpassbar und auf die Bedürfnisse jedes Einzelnen zugeschnitten? Jeder Körper ist unterschiedlich und gegebenenfalls benötigt Mitarbeiter A ein ganz anderes Exoskelett als Mitarbeiter B, da er anderen Belastungen ausgesetzt ist.
Welche Zukunftsvisionen gibt es? Was sollen Exoskelette einmal leisten können?
Kinne: Mein Wunsch ist es, dass die Ressource Mensch sinnvoll und möglichst belastungsarm eingesetzt wird. Dafür ist es notwendig, Realbelastungen im operativen Arbeitsalltag zu erfassen und Fehl- oder Überbelastung situativ positiv zu beeinflussen. Dies kann bspw. über integrierte Sensorik in den Exoskeletten, die dem Nutzenden eine Rückmeldung geben, erzielt werden. Bis die Technologieentwicklung so weit ist, wäre es wünschenswert, wenn Unternehmen sie als langfristiges Investment in die Gesundheit ihrer Mitarbeiter sehen und dem Ganzen die Chance geben, praktisch zur Anwendung zu kommen. Eine zweiwöchige Testphase ist da einfach nicht aussagekräftig.
Wie tragen Exoskelette dazu bei, die Wirtschaft in der Region voranzutreiben?
Kinne: Grundsätzlich möchten wir erreichen, dass es weniger krankheitsbedingte Ausfälle gibt, indem wir präventiv Muskel-Skeletterkrankungen entgegenwirken. Langfristig muss das Ziel sein, das Renteneintrittsalter in der Logistik zu erhöhen - derzeit ist dies oft bereits mit Ende 50 erreicht, da die körperlichen Beschwerden natürlich im Alter zunehmen.
Hier muss man einfach etwas tun, um als Logistikdienstleister handlungsfähig zu bleiben. Wenn wir mit der Technologie dazu beitragen können, die Gesundheit der Beschäftigten zu erhalten, tragen wir gleichzeitig dazu bei, den Fachbereich der Logistik attraktiver zu machen. Das wäre eine sehr positive Entwicklung für das Ruhrgebiet als Wirtschaftsstandort.
Text: Annika Makowka